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  1. Kapitel (nicht endgültige Version)

Heute war der Tag, an dem ich dem Monster ins Auge blicken, der Tag, an dem ich dem Tod begegnen würde. Die Ernte auf den Feldern war eingeholt, die saftig-grünen Wälder von Varis verwandelten sich allmählich in bunte Schlieren am Horizont. Der Himmel war grau. In der Luft hingen feuchte Tropfen, die sich auf mein Gesicht und meine Haare legten. Mein Blick glitt zur dichten Nebelwand in der Ferne, die die Gipfel der hohen Bergkette im Norden von Varis verhüllte. Was dahinter lag, war genauso im Nebel verborgen wie die Berge selbst. Nur war es ein anderer Nebel – einer, den die Zeit über das Wissen gebreitet hatte, das uns von unseren Vorfahren hinterlassen wurde.

Jorek griff mich an. Ich hob mein Schwert, parierte seinen Schlag und keuchte auf, als die Wucht des Aufpralls sich in meinen Arm übertrug. Meine Muskeln brannten, mein Herz raste, und ich rang verzweifelt nach Luft. Wir trainierten schon den ganzen Vormittag ohne Pause, so wie jeden Morgen seit acht Jahren. Es war immer noch nicht genug. Mir fehlte die rohe Kraft, die dem Hauptmann der königlichen Garde angeboren war, und erst recht fehlte mir die Stärke und Erfahrung, die er im Laufe seines Lebens gesammelt hatte, während er Varis vor den immer wieder aufkeimenden Angriffen unserer Nachbarn geschützt hatte. Verärgert ließ ich mein Schwert sinken.

»Warum musste ich auch als schwache Frau geboren werden?«, schimpfte ich wütend auf meine schmerzenden Muskeln und vor Erschöpfung zitternden Arme. Wäre ich als Mann geboren worden, befände ich mich gar nicht in dieser Lage. Nur Frauen, nur erstgeborenen Prinzessinnen, passierte das, was mich heute bei Sonnenuntergang erwartete.

»Natka, du bist alles andere als schwach. Du bist die stärkste Frau, mit der ich jemals das Vergnügen hatte, die Klingen zu kreuzen. Und du bist seit vielen Jahren meine beste Schülerin«, lobte Jorek mich. Er strich sich eine Strähne seiner langsam ergrauenden Haare hinter sein Ohr. Jorek trug sein Haar in dem gleichen traditionellen geflochtenen Zopf im Nacken wie jeder Krieger von Varis. Auch ich trug meine feuerroten Haare auf diese Art. Aber nach und nach, je härter unser Training war, lösten sich unsere Frisuren auf. Und am Ende unseres Trainings glichen wir beide den Hühnern mit den fransigen Federn, die im Burggarten herumliefen und immer ein wenig so aussahen, als wären sie in einen kräftigen Sturm geraten.

»Wir trainieren seit meinem zehnten Sommer, und ich bin immer noch nicht stark genug, dich zu schlagen, geschweige denn mit einem Schwert wie deinem mehr als wenige Minuten durchzuhalten«, beklagte ich meine mangelnden Kräfte. Wenn ich Jorek nicht besiegen konnte, konnte ich das Monster erstrecht nicht besiegen.

Jorek trat auf mich zu, legte seine Hände auf meine Schultern und sah mir ernst ins Gesicht. »Deine Stärke findest du in deiner Wendigkeit, in deiner Geschwindigkeit und in deinem Geist. Du bist gut in Dingen, die mir niemals liegen werden. Du kannst dich an einen Gegner heranschleichen, ohne dass er es bemerken würde.« Joreks Augen funkelten belustigt, als er mich daran erinnerte, wie ich mich heute Morgen an ihn herangeschlichen und ihm meinen Dolch gegen die Kehle gedrückt hatte.

»Aber ich könnte einen guten Krieger nie im direkten Kampf töten. Ich müsste ihm hinterhältig in den Rücken fallen«, gestand ich seufzend. »Ich werde ihn nicht besiegen können. Der Blutdrache wird mit mir leichtes Spiel haben.« Ich bückte mich nach dem kleinen, viel leichteren Schwert, das Jorek mir zu meinem 17. Geburtstag vor einem Jahr geschenkt hatte. Ich schob es zurück in die Scheide auf meinem Rücken und strich die Falten meines Mantels glatt, der von so dunklem Grün war wie die Wälder von Varis im Sommer. Dieses Grün zierte auch die Fahnen und Wimpel von Varis, die ledernen Uniformen der Garde und die Rüstungen der Soldaten.

»Wenn jemand den Drachen besiegen kann, dann du. Glaub immer fest daran. Wenn du nur fest genug daran glaubst, dann passiert es auch. Zweifel machen uns schwach«, rief Jorek mir in Erinnerung. Er legte seine Hand in meinen Rücken und lächelte. Wenn er lächelte, verzerrte sich die breite Narbe in seinem Gesicht. Sie ähnelte einem Fluss auf einer Landkarte und spaltete seine Wange in zwei Hälften. Sie stammte von dem Schwerthieb eines Seraners. Jorek dirigierte mich sanft in Richtung der Stadt. Unser Training war somit beendet. Ich spannte mich innerlich an, ließ mir aber nicht anmerken, wie sehr es mich traf, dass Jorek und ich heute wahrscheinlich unser letztes Training absolviert hatten.

Sera und Varis befanden sich seit Jahrhunderten im Krieg. Der Hass aufeinander ließ uns immer wieder zu den Waffen greifen und Blut vergießen, während wir mit unseren anderen Nachbarn friedlichen Handel betrieben. Aber auf diesen Ländern lastete auch nicht der Blutdrache. Der Drache besuchte nur Sera und Varis. Forderte nur von diesen beiden Ländern, Opfer zu erbringen. Meine Großmutter hatte mir einst erzählt, dass unser Streit mit Sera so alt war, wie unser Streit mit dem Blutdrachen.

»Vielleicht«, gab ich leise zurück. Ich hoffte es, aber mich trieb seit Wochen diese dunkle Vorahnung vor sich her. Es kribbelte in meinem Magen, ließ mich frösteln, selbst dann, wenn ich nicht daran dachte, dass der Tag des Drachen näher und näher rückte. »Sollten Drachen nicht unsterblich sein? Nach allem, was wir wissen …«, setzte ich an und war mir bewusst, dass meine Stimme die Hoffnungslosigkeit wiedergab, die ich empfand. Die Zweifel in mir wuchsen mit jeder Minute. Mit jedem Herzschlag, der von Furcht erfüllt in meiner Brust trommelte.

»Nicht, wenn du dein Schwert genau in die weiche Stelle über ihrem Herzen bohrst. Nur diese eine Stelle, so groß wie eine Silbermünze, ist nicht gepanzert«, wiederholte Jorek, was er mir seit Beginn unseres Trainings vor so vielen Jahren immer wieder gesagt hatte. »Ich habe noch keinen Schützen gesehen, der so sicher seine Pfeile ins Ziel bringt wie du. Wenn jemand es schafft, den Drachen zu töten und unser Volk zu befreien, dann du.« Er drückte meine Schulter, blickte mir tief in die Augen und lächelte. Jorek gab sich Mühe, meine Zweifel an meinen Fähigkeiten zu zerstreuen, aber nichts, was er versuchte, konnte das lähmende Gefühl in meinem Inneren noch besiegen. »Du hast mir versprochen, dass du kämpfen wirst. Dass du nicht aufgeben wirst.«

»Und das werde ich auch nicht«, entgegnete ich ihm. »Wem, wenn nicht dir, sollte ich gestehen, dass ich mich trotz aller Vorbereitung, noch immer nicht bereit fühle?«

»Niemand, nicht einmal ich, könnte sich jemals für das bereit fühlen, was du tun musst«, sagte er mit dieser ruhigen Stimme, mit der er mich geduldig seit so vielen Jahren in die Kunst der Kriegsführung einwies. »Wiederhole noch einmal, was du in den ersten Minuten tun sollst. Gleich, nachdem er sich mit dir in die Luft erhoben hat.«

Ich verdrehte die Augen, weil es mir vorkam, als redeten wir kaum noch über etwas anderes als diese ersten Minuten, die über das Leben des Drachen und über mein eigenes entscheiden könnten. »Wenn der Drache mich wählt, statt Vela, dann werde ich nicht in Angst erstarren. Ich werde tief durchatmen und mich nicht von meinen Gefühlen überwältigen lassen, sondern mich einzig auf meine Aufgabe konzentrieren. Seinen Brustkorb ins Visier nehmen, meinen Bogen von meiner Schulter nehmen, einen Pfeil aus dem Köcher holen, ihn in den Bogen einspannen, die weiche Stelle über seinem Herzen suchen und schießen«, wiederholte ich die wichtigste Lektion der letzten Jahre.

»Was, wenn du nicht an deinen Bogen herankommst?«, hakte Jorek nach.

»Ich greife unter meinen Mantel und ziehe eins meiner Schwerter, sollte es zu kurz sein und ich damit nicht seinen Brustkorb erreichen können, weil der Drache so riesig ist, wie es in den Büchern behauptet wird, halte ich mein Schwert versteckt, bis wir gelandet sind und nutze den kurzen Augenblick danach, um ihn zu überraschen.«

»Richtig«, bestätigte Jorek. »An das und nur an das denkst du, während er dich wegträgt. An nichts anderes. Wiederhole jedes Wort in deinen Gedanken. Konzentriere dich nur auf diese Worte, dann kann die Angst dich auch nicht überwältigen.«

Ich nickte vorsichtig, straffte meine Schultern und fokussierte schon jetzt meine Gedanken auf unseren gemeinsam erarbeiteten Plan, damit meine Furcht nicht die letzten Stunden meines Lebens bestimmte. Heute war der Tag des Drachen und für Varis war dieser Tag ein wichtiger Tag. Denn nach heute konnte das Volk von Varis sein Leben wie gewohnt für fünfzig Jahre weiterführen. Denn der Blutdrache kam nur für einen einzigen Tag alle fünfzig Jahre über die Berge geflogen, um seinen Tribut zu fordern. Danach verschwand er wieder im Nebel und Varis und Sera konnten den Drachen für eine lange Zeit vergessen. Es würden Prinzessinnen geboren werden, die ein sicheres Leben haben konnten. Bis die Zeit wieder gekommen war.

Jorek führte mich an der steilen Klippe entlang, weil er wusste, dass ich diesen Ort vor den Toren von Fourni liebte. Ich sollte den Blick auf die Weiten des Meeres noch ein letztes Mal genießen dürfen. Einige Meilen vor der Küste lagen mehrere Schiffe vor Anker und warteten darauf, dass sie an der Reihe wären, ihre kostbare Fracht zu entladen. Direkt unter unseren Füßen lagen zwei Schiffe im kleinen Hafen. Arbeiter und Matrosen rollten Fässer von Deck an Land, wo sich schon weitere Fracht stapelte und darauf wartete, seinem Bestimmungsort zugeführt zu werden.

Als Tajan und ich noch Kinder waren, saßen wir oft auf einer der Kisten, beobachteten die Arbeiter und rätselten gemeinsam welche Fracht die Schiffe uns gebracht hatten. Aromatische Gewürze und Tees, süße Früchte weit aus dem Süden oder Getreide. Die Schiffe kehrten niemals leer zurück an die Orte, von denen sie gekommen waren. Varis war stolz auf seine bunten Stoffe, deren Wolle von den Schafen stammte, die im ganzen Land auf den Weiden grasten.

Ich blickte nach Norden, dorthin, wo der Nebel auch das Meer verschlang. Von den Matrosen wussten Tajan und ich, dass die Könige von Sera und Varis unzählige Schiffe in all den Jahrhunderten geschickt hatten. Schiffe, die den Nebel durchdringen, genauso wie tapfere Soldaten und Krieger, die über die Berge gehen sollten, um den Drachen zu finden und zu töten. Die Soldaten kamen niemals zurück aus den Bergen. Und auch von den Schiffen schafften es nur wenige. Aber die, die es schafften, berichteten von wochenlangen Irrfahrten im Nebel, von Matrosen, denen der Nebel die Haut von den Körpern gefressen hatte oder von singenden Frauen, die mitten im Meer schwammen und die Schiffe gegen scharfe Felsen lockten.

Wir durchschritten das große Tor von Fourni, der Hauptstadt von Varis. Die beiden Wachen neigten ihre Häupter und drückten ihre Fäuste auf ihre Herzen, als wir an ihnen vorübergingen. Ihre Körper waren mit ledernen grünen Rüstungen geschützt, die mit goldenen Ornamenten verziert waren. Fourni war von einer hohen Mauer umgeben, die uns weitgehend vor den Angriffen aus Sera schützte. Die meisten Kämpfe fanden in den Wäldern statt, die die kleinen Dörfer des Landes umgaben. Nahe an der Grenze die Sera und Varis trennte. Der letzte große Angriff von Sera war mittlerweile mehr als zehn Jahre her. Seither war es nur zu kleineren Zusammenstößen gekommen. Nach der langen Zeit war beiden Armeen die Lust am Blutvergießen vergangen, aber wenn sich der Tag des Drachen näherte, hatten beide Länder andere Sorgen, als sich gegenseitig zu bekämpfen. Beide Länder mussten sich auf den Verlust einer Prinzessin vorbereiten und beide taten das auf ihre eigene Weise.

Auf dem Markt boten an normalen Tagen Händler laut rufend ihre Waren an. Viele von ihnen hatten weite Reisen hinter sich. Die meisten aber waren Bauern, Handwerker und Weber aus Varis. Die Stände, die sonst in einem Kreis um die Statue der großen Mutter Valaria aufgestellt waren, waren heute verwaist. Valaria stand auf einem Sockel und überragte die zweistöckigen Steinhäuser der Stadt. In der Hand hielt sie ein Schwert und auf ihrem Rücken lag ein Bogen und ein Köcher mit Pfeilen. Valaria war die Göttin, die alles erschuf. Die Wälder, die uns umgaben, die Felder, die uns ernährten, die Tiere und uns.

Unter der Statue spielten zwei Kinder mit Seilen. Dort wo sonst kaum genug Platz war, um alle Kinder von Fourni zu fassen, die sich hier trafen, um gemeinsam den Tag zu verbringen. Die meisten Bewohner von Fourni hatten die Stadt verlassen und versteckten sich in den Wäldern und Höhlen der Umgebung, bis der Drache zurück in sein Reich gekehrt war. Zusammen mit einer der Prinzessinnen, die ihm als Tribut geopfert wurde. Schon heute Abend, wenn die Sonne unterging, der Himmel sich rosa verfärbte, hieß es Prinzessin Vela oder ich. Ich rieb mir über die fröstelnden Arme und versuchte, das flaue Gefühl in meinem Magen zu ignorieren. Schon seit Tagen kämpfte ich mit der Übelkeit, die in mir aufstieg, wenn ich an den Blutdrachen dachte.

Am Ende des Marktes, dort wo der Platz auf die breite Steinstraße traf, die hoch zur Burg führte, die auf einem Hügel über der Stadt thronte, saß eine alte Frau. Ihr weißes Haar im traditionellen Zopf zurückgebunden, hatte sie es sich auf einer dunklen Wolldecke bequem gemacht. Vor ihr lagen Kleidungsstücke, die sie gestrickt hatte, aufgereiht. Ich blieb stehen, betrachtete ihre Ware, im festen Willen, ihr etwas abzukaufen. Die Frau hob den Blick und lächelte mir zu. Tiefe Falten waren in ihr Gesicht gegraben, ihre Wangen eingefallen und ihre Finger knochig. Die Ernten in Varis waren seit Jahren schlecht. Obwohl unser Boden reichhaltig und dunkel war, wuchs auf den Feldern nur wenig, weswegen wir darauf angewiesen waren, unser Getreide vom Festland im Süden zu importieren. Das machte es teuer. Varis war kein reiches Land, der lange Krieg mit Sera hatte unsere Ersparnisse erschöpft. Das Volk litt unter Hunger und Armut. Und dieser Frau stand der Hunger ins Gesicht geschrieben.

Ich deutete auf ein Paar warmer Strümpfe und einen Schal. Sollte ich den Flug über die Berge überleben, konnte ich warme Sachen gebrauchen, wenn ich den Drachen getötet hätte und mich allein zurück begab. Aber noch viel nötiger als ich warme Kleidung, brauchte die alte Frau etwas Geld, um sich zu essen kaufen zu können.

Jorek nahm ein paar Münzen aus dem Geldbeutel, den er mit sich trug, und gab sie der Frau, die sich mehrmals bedankte und den Kopf neigte. »Ihr seid gütig, Prinzessin Natka. Und Ihr auch, Hauptmann Jorek«, sagte sie, ohne dass sie zuvor zu erkennen gegeben hatte, dass sie wusste, wer wir waren.

Sie griff nach meiner Hand, was dazu führte, dass Jorek sich neben mir anspannte und seine Hand auf den Dolch legte, den er unter seinem Mantel an seiner Seite trug. »Ich danke Euch auch für Euer Opfer und bete, der Blutdrache möge sich für Vela entscheiden.«

Ich legte meine Hand auf ihre. Ihre Finger waren kalt, wahrscheinlich war sie durchgefroren, weil sie schon seit Stunden auf dem Boden saß. »Wenn der Drache mich wählt, dann sei gewiss, ich werde mein Bestes geben, dieses Monster zu töten. Damit Varis frei ist«, versprach ich ihr.

»Mein Großvater, er lebte im alten Fourni, er war Soldat in der königlichen Garde. Er hatte mir erzählt, wie es war, als der Drache die alte Hauptstadt zerstörte, weil wir ihn mit einer falschen Prinzessin betrogen hatten. Der Blutdrache hatte alles niedergebrannt: die Häuser, die Burg, die Felder. Der großen Mutter hatten wir es zu verdanken, dass niemand in dem alten Fourni war, weil alle sich in den Höhlen versteckt hatten.« Sie drückte meine Hand fester, in ihren Augen schwammen ungeweinte Tränen. »Es tut mir so leid, ich wünschte, wir hätten eine Möglichkeit, Euch zu retten.«

»Nichts von alldem ist deine Schuld«, versuchte ich sie zu beruhigen. Ich kannte die Geschichten über das alte Fourni. Noch heute zeugten die Ruinen von seinem Schicksal. Es lag näher an den Bergen, nahe des Steinkreises. In den Büchern der Geschichtsschreiber gab es Zeichnungen einer großen, florierenden Stadt mit hohen Türmen, wohlhabenden und zufriedenen Bewohnern. Es hieß, dass es kaum Armut gab, dass die Felder reich an Getreide waren und niemand hungern musste. Ich war überzeugt, dass all diese Geschichten der Fantasie der Schreiber entsprungen sein mussten. Wieso sonst, war der Wohlstand verschwunden und die Völker auf der Insel vom Hunger bedroht?

Sie ließ meine Hand los und verneigte noch einmal den Kopf vor mir. »Wir alle setzen unsere Hoffnung auf Euch. Es gab nie eine Prinzessin, die stärker und mutiger war als Ihr.«

Ich schluckte bei ihren Worten und kämpfte mit dem Gefühl, das die schwere Last auf meinen Schultern auslöste. Jeder in Varis wusste, dass ihre Prinzessin vom Tag ihrer Geburt an, auf den heutigen Tag vorbereitet wurde. Und jeder hoffte. Hoffte auf ein Wunder, an das ich selbst nicht glauben konnte. Trotzdem straffte ich mich, setzte ein Lächeln auf und nickte der Alten selbstsicher zu. »Sollte der Blutdrache mich erwählen, werde ich Varis befreien. Und dann wird Frieden einkehren zwischen Sera und Varis und alles wird besser und einfacher werden.« Leere Worte, die ich der alten Frau zum Trost schenkte. Ich war nicht im Stande, ihr ihre Hoffnung zu nehmen, indem ich ihr sagte, wie es wirklich in mir aussah. Aber ich sagte ihr, was meine Mutter von mir erwartet hätte, weil es die Aufgabe einer Prinzessin war, ihrem Volk Mut und Hoffnung auf eine bessere Zukunft zu machen.

Ich hakte mich bei Jorek unter und wir setzten unseren Weg fort. In meiner freien Hand trug ich die Strümpfe und den Schal. Ich betete, dass ich die Gelegenheit bekam, herauszufinden, ob sie mich in den eisigen Nächten wärmen konnten, wenn es mir gelang, den Drachen zu töten, bevor er die Berge komplett überquert hatte. Das Gespräch mit der alten Frau nagte an meinem Gewissen. Für sie und für all die anderen Menschen in Varis und auch in Sera, wollte ich meine Pflicht erfüllen. Auch wenn ich dabei mein Leben verlor. Wären da nicht meine Ängste. Die Befürchtung, ihren Erwartungen nicht gerecht werden zu können.

»Was, wenn ich sie enttäusche? Wenn all die Vorbereitung nichts nutzt und es Varis nie besser gehen wird?«, fragte ich Jorek. Je weniger Zeit mir blieb, desto öfter sprach ich ihm gegenüber aus, wie ich mich fühlte. Desto weniger konnte ich meine Zweifel und Ängste vor ihm verbergen. Sie wollten aus mir heraus. Wollten, dass ich über sie sprach und mich von ihnen befreite. Jorek war in all den Jahren wie ein Vater für mich geworden, während meine eigenen Eltern viel zu sehr König und Königin waren, um in mir mehr als die Tochter zu sehen, die sie einzig deswegen bekommen hatten, um ihrem Volk zu dienen. »Zu sehen, wie sie hoffen …« Ich seufzte. »Es fühlt sich an, als läge ein Stein auf meiner Brust.«

»Deine größte Chance sind die Augenblicke, nachdem er sich mit dir in die Luft erhoben hat. Dann wird er damit beschäftigt sein, sich auf seinen Flug zu konzentrieren.« Auf diese Augenblicke bereitete mich Jorek seit Monaten vor. Immer wieder waren wir die verschiedensten Situationen durchgegangen und wie ich auf sie reagieren konnte. Was ich tun konnte, wenn es mir gelang, mich aus seinen Klauen zu befreien. Wie ich in den Bergen überleben konnte. Wie ich wieder nach Hause finden konnte.

»Schade, dass ich keine eigenen Flügel habe«, erklärte ich mit bitterem Tonfall im Wissen, dass ich sterben würde, wenn ich den Drachen tötete, während er sich mit mir weit oben im Himmel befand. Aber Jorek hatte recht, in diesen Augenblicken waren meine Chancen, ihn zu töten, am größten. Besser wir beide starben, als nur ich, wenn er mich erst einmal dorthin verschleppt hatte, wohin er all seine Opfer brachte. In seine Höhle irgendwo auf der anderen Seite der Bergkette. Tajan war sich sicher, dass dort all die Knochen und Schädel seiner Opfer herumlagen. So wie meine vielleicht auch bald.

Wir durchschritten das Tor zur Burg. Auch hier wurden wir begrüßt, auch hier folgten mir mitleidige und hoffnungsvolle Blicke. Ich hob das Kinn, atmete tief ein und schwellte meine Brust. Jeder im Burghof sollte glauben, dass ich bereit war. Bereit mein Leben für ihre zu geben. Und daran zweifelte ich auch nicht. Ich war entschlossen, mich zu opfern. Ich zweifelte nur daran, dass ich in der Lage sein würde, den Blutdrachen zu töten, während er mich in seinen grausigen Klauen hielt und mit mir über die Berge hinwegflog.